Normen in der Elektrotechnik – “Man muss nur wissen wo es steht!!!!!!” 

Normen in der Elektrotechnik – “Man muss nur wissen wo es steht!!!!!!” 

Deutschland, die EU und mittlerweile die ganze Welt ist ein Geflecht an Normen, Richtlinien, Verordnungen und Gesetzten. Was in Fach- und Lehrbüchern und Fachartikeln dem Anwender häppchenweise anwendungsspezifisch und in verständlicher Sprache erläutert wird, verbirgt im Hintergrund eine Kombination aus technischen Möglichkeiten gepaart mit den derzeit gültigen Normen und weiteren Anforderungen. Besonders im Rahmen der Berufs- und Meisterausbildungen im Elektrohandwerk birgt die reine Lehre nach Lehrbuch ein großes Risiko. Das reine Lehrbuch stellt lediglich eine Vermittlung von Hintergrundwissen gepaart mit der für die Prüfung relevante Stoffvermittlung. Man lernt demnach nur für die bevorstehende Prüfung anhand des derzeitigen Normenstandes. In der Realität werden allerdings Normen regelmäßig überarbeitet, wodurch sich Anforderungen ändern, erweitern und neue Aspekte hinzukommen. Hierzu ist es sowohl für angehende als auch ausgebildete Gesellen und Meister im Elektrohandwerk unerlässlich den Wissenstand von der Ausbildung kontinuierlich auf dem Laufenden zu halten.

Meine aktuelle Beitragsserie in der Fachzeitschrift Elektropraktiker gibt in den Ausgaben Februar 2021 bis Juni 2021 unter der Rubrik “Lernen und Können”  einen Überblick über die Entstehung, Struktur und Anwendung der für das Elektrohandwerk relevanten Normen. Es soll dem Leser eine Orientierungshilfe im Normendschungel geben und die Grundlagen der Normung und der Interpretation vermitteln.

 

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim lesen.

Karlsruhe, den 10.06.2021

Von der Erfindung zur VDE-Norm

Von der Erfindung zur VDE-Norm

Erfindungen der Elektrotechnik und die Rolle des VDE

Keine anderen technischen Erfindungen haben unsere Welt so geprägt wie Erfindungen der Elektrizität. Was heute in Form von elektrischer Energie mit all den Annehmlichkeiten uns zur Verfügung steht, musste erst einmal entdeckt und Begriffen werden. Im 17. Jahrhundert fand der Ingenieur Otto von Guericke als einer der ersten Forscher heraus, dass man durch Reibung Elektrizität erzeugen kann. Die Urkraft der Elektrizität waren Mitte des 18. Jahrhundert Blitze. Im Jahr 1752 wies Benjamin Franklin  die Elektrizität von Blitzen nach. Hierzu ließ er während eines Gewitters einen Drachen mit einem metallenen Schlüssel daran steigen. Franklins Experiment führte zur Erfindung des Blitzableiters in Form einer Metallstange, die auf dem Dach von Gebäuden die Blitze sozusagen anzieht und in den Boden ableitet. Man könnte demnach sagen, dass damit der Grundstein der Erkenntnisse der Elektrizität und der damit erforderlichen Vorkehrungen zum Beherrschen der Gefahren gelegt wurde. Im Jahr 1800 wurde von Alessandro Volta (Italien) die erste Batterie, die Volta Säule, entwickelt. Sie bestand aus vielen übereinander geschichteten Kupfer- und Zinkplättchen, zwischen denen sich in bestimmter regelmäßiger Folge elektrolytgetränkte Papp- oder Lederstücke befanden. Fast zeitgleich wurden von Johann Samuel Halle (1792) und Humphry Davy (1802) der Effekt des Lichtbogens beobachtet und zur Beleuchtung angewendet. Mit Voltas erster Batterie, der Volta-Säule, wurden damit eine elektrische Beleuchtung mit Bogenlampen realisiert. Die Anwendung der Elektrizität für Licht war geboren. In den darauffolgenden Jahrzehnten folgten weitere Erfindungen: 1821 der Elektromotor, 1831 der Generator und Transformator, 1878 erfand Thomas Edison (USA) und zeitgleich Joseph Swan (England) die Glühlampe. 1882 ging das erste kommerzielle Kraftwerk mit Stromzähler ans Netz.

Parallel erfolgte in den Jahren 1847 bis 1931 der berühmte Stromkrieg zwischen Thomas Edison und Goerge Westinghouse. Während Edison die Gleichspannung favorisierte, favorisierte Westingshouse die Wechselspannung, als die geeignetere Technik für die großflächige Versorgung elektrischer Energie. Bereits in diesen Jahren stellten sich die ersten Frage, welche Technik sich langfristig durchsetzen sollte. Bereits zum damaligen Zeitpunkt war den Pionieren der Elektrotechnik klar, dass die Anwendung von Elektrizität auch mit Risiken für Menschen und Sachgüter verbunden sind. Im Jahr 1881 wurde der Zahnarzt Alfred P. Southwick zufällig Zeuge eines Unfalls, bei dem ein betrunkener Mann einen Stromgenerator berührte und sofort starb. Im Zuge des Stromkrieges zwischen Edison und Westinghouse versuchte Edison die, von Westinghouse favorisierte, Wechselspannung als Lebensgefährlich darzustellen, worauf Harold P. Brown, ein Mitarbeiter von Edison, den elektrischen Stuhl als Hinrichtungsmaschine entwickelte.

Der Nutzen der neuen Energieform zog einher mit der Frage der sicheren Anwendung. Hierfür mussten klare Regeln für die Anwendung her. Hierzu kam die neue Fachwelt in Deutschland am 21./22. Januar 1893 in Berlin zusammen und gründete den VDE. An der Gründerkonferenz nahmen 37 Delegierte der Elektrotechnischen Vereine Deutschland teil. Den erster Verein gab es bereits seit 1879. Im September des gleiches Jahres hatte der VDE in Köln seine erste Jahresversammlung. Im Rahmen der Jahresversammlung wurde die erste technische Kommission des VDE gebildet. Ihre Aufgabe bestand darin, Vorschriften für elektrische Anlagen zu erarbeiten.

Im Jahr 1895 wurde als Ergebnis die erste „VDE Vorschrift“, die VDE 0100 zur sicheren Erstellung elektrotechnischer Anlagen verabschiedet. Die elektrotechnische Normung so wie wir sie heute kennen war damit geboren.

Betrieb elektrischer Anlagen im Jahr 1903

Was mit vielen kleinen Erfindungen begann, musste  im Zuge der industriellen, öffentlichen und privaten Anwendung beherrscht und sicher betrieben werden. Heute kennen wird diese Vorschriften im Rahmen der DIN VDE 0105-100 Betrieb elektrischer Anlagen. Am 1. März 1903 trat die Erstausgabe der VDE 0105 mit dem Titel „Sicherheitsvorschriften für den Betrieb elektrischer Starkstromanlagen“ in Kraft. Bereits dort kannte die Norm unter Abschnitt III die „Betriebsvorschriften für elektrische Installationen und Stromverbraucher, welche mit Niederspannung betätigt werden“. Nach §6 waren die elektrischen Anlagen den „Sicherheitsvorschriften für die Errichtung elektrischer Anlagen“ des Verbandes Deutscher Elektrotechniker entsprechend in ordnungsgemäßen Zustand zu erhalten durch folgende Aufzählung enthalten:

  • Der Zugang zu Maschinen und Apparaten, insbesondere Schalt- und Verteilertafeln, muss stets freigehalten werden.
  • Schutzkästen und Schutzhüllen jeder Art müssen in brauchbarem Zustande erhalten werden.
  • Warnschilder, Bedienungsvorschriften, sind in leserlichem Zustande zu halten.

Mit Aufzählung der drei Anforderungen waren die Schutzziele beim Betrieb elektrischer Anlagen klar festgelegt. Eine Unterscheidung zwischen elektrischen Anlagen, Maschinen und Prozessanlagen gab es damals noch nicht. Mit der Anforderung, dass Zugänge freizuhalten sind wurde bereits im Jahr 1903 die Anforderungen an das sichere Bedienen festgelegt. Während der Zugang in den aktuellen Normenausgaben weiterhin vorhanden sind, ist die Freihaltung von Freihaltung von Zugängen und Gängen heute fester Bestandteil der Unfallverhütungsvorschriften. Die Feststellung des brauchbaren Zustandes von Schutzkästen und Schutzumhüllungen dient damals wie heut dem Schutz vor direktem Berühren aktiver Teile und damit dem Schutzziel: Schutz gegen elektrischen Schlag. Der leserliche Zustand von Warnschilder und Bedienungsvorschriften sollte den Nutzer in die Lager versetzen, Gefährdungen zu erkennen und die Anlagen sicher zu bedienen. Heute sind diese Vorschriften in unterschiedlichen Normen des VDE und Regelwerken der Unfallverhütungsvorschriften festgelegt.

Auch ist 1903 der Erhalt des ordnungsgemäßen Zustandes verbindlich festgelegt. In §7 (a) heißt es hierzu:

„Zur Kontrolle ihres ordnungsgemäßen Zustandes sind alle Anlagen zunächst vor Inbetriebsetzung und sodann in angemessenen Zwischenräumen zu revidieren, wobei den vorgeschriebenen Schutzvorrichtungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist“ und weiter „Hierbei ist auch der Isolationszustand der Anlage zu kontrollieren. Erhebliche Erweiterungen sind wie heute wie Neuanlagen zu behandeln.“

Mit diesem einfachen Satz wurde der sogenannte Bestandsschutz, den es eigentlich sowieso nicht gibt, ausgehebelt. Was sinngemäß die Erstausgabe der VDE 0105 von der derzeit gültigen Ausgabe unterscheidet ist, dass heute zwischen Anpassung und Instandsetzung unterschieden wird. Eine Anpassung ist demnach immer dann erforderlich, wenn Anpassungsvorschriften bestehen oder die elektrische Anlage so erweitert oder geändert wird, dass die Änderung bestehende Anlagenteile betrifft und diese demnach an die derzeit anerkannten Regeln der Technik anzupassen sind. Gleiches gilt bei Nutzungsänderung.

Auch die Prüfung elektrischer Anlagen ist bereits seit 1903 fester Bestandteil der VDE 0105. In §7 Abschnitt d) ist zudem eine Aussage über die Prüffristen enthalten. Dort heißt es:

„Die Revisionen haben stattzufinden: In Warenhäusern, Theatern, sowie feuergefährlichen und durchtränkten Räumen jährlich mindestens einmal; in gewöhnlichen Läden, Betriebsräumen und Bureaus (Büros) alle drei Jahre einmal: in Wohnungen alle fünf Jahre.“

Mit dieser Anforderung waren bereits in der Erstausgabe der VDE 0105 die Prüffristen unter Berücksichtigung der Gebäude- und Raumnutzung sowie der Qualifikation des Personals und der Nutzer festgelegt. Außerdem waren neben elektrischen Anlagen in gewerblichen und öffentlichen Bereichen auch Prüffristen an elektrische Anlagen in Wohngebäuden verbindlich aufgenommen. Was früher normativ verbindlich vorgeschrieben wurde, ist heute in einer Vielzahl an gesetzlichen Vorgaben und Verordnungen sowie über privatrechtliche Regelungen z.B. den Versicherungsvertrag zu finden.

 

 

Quellen:

 

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im VDE Dialog des VDE Mittelbadens in der Ausgabe 01/2021.